Karl-Kraus-Lesung lässt betroffene Zuhörer zurück

Beklemmende Parallelen zur Gegenwart

 

Wolfgang Huber (rechts) und Karl Stumpfi lesen aus dem Drama "Die letzten Tage der Menschheit", Akte 4 und 5, von Karl Kraus. Foto: Tanja Kraus

Wolfgang Huber (rechts) und Karl Stumpfi lesen aus dem Drama „Die letzten Tage der Menschheit“, Akte 4 und 5, von Karl Kraus. Foto: Tanja Kraus

Langer Schlussapplaus für die Akteure des Karl-Kraus-Lesetheaters in der Versöhnungskirche (v. re.) Matthias Eckel-Binder (Organist), Wolfgang Huber und Karl Stumpf (Rezitatoren) und Jürgen Zach (Gesang und Tontechnik). Foto: Grassmann

Langer Schlussapplaus für die Akteure des Karl-Kraus-Lesetheaters in der Versöhnungskirche (v. re.) Matthias Eckel-Binder (Organist), Wolfgang Huber und Karl Stumpf (Rezitatoren) und Jürgen Zach (Gesang und Tontechnik). Foto: Grassmann

Dieses Theaterstück ist  schlichtweg unspielbar. Es führt in „hundert Szenen und Höllen“, seine Helden sind „Operettenfiguren, welche die Tragödie der Menschheit aufführen. Die wenigen Versuche, es in Ausschnitten auf eine Bühne zu bringen, blieben  bis dato unbefriedigend.

Karl Kraus (1874 - 1936)

Karl Kraus (1874 – 1936)

Nach „irdischer Zeitrechnung“, so schätzte der Wiener Satiriker, müssten für Die letzten Tage der Menschheit zehn Abende in Anspruch genommen werden. Das Drama war nach dem Willen des Autors  deswegen einem „Marstheater“ zugedacht. „Was aus dieser Versuchsstation des Weltunterganges dringt“, gestand  Karl Kraus ein, “ ist das Echo meines blutigen Wahnsinns“.

Dass dieses kolossale Endzeitdrama dennoch nicht in der Versenkung verschwunden ist, dafür sorgte die Wiederaufbereitung durch geniale Rezitatoren. Die Tournee-Lesungen des Wiener Kabarettisten, Schauspielers und Schriftstellers Helmut Qualtinger in den 70er Jahren etwa, aber auch die zweiteilige Hörspielfassung des Österreichischen Rundfunks im Weltkriegsgedenkjahr 2014 mit Schauspieler Erwin Steinhauer, der sämtlichen Rollen seine Stimme lieh.

Die Rezitatoren: Karl Stumpfi (li.) & Wolfgang Huber.

Die Rezitatoren: Karl Stumpfi (li.) & Wolfgang Huber.

Diesen großen Vorbildern versuchte der Ex-Journalist und Kraus-Fan Karl Stumpfi „nachzuarbeiten“, als er für den Neunburger Kunstherbst eine eigene Fassung für Lesetheater einrichtete. Der erste Teil  umfasste rund 20 Szenen aus dem Vorspiel sowie den Akten 1 bis 3. Umgesetzt wurde sie am 17. Oktober 2014 im Rahmen einer Benefizveranstaltung für den Orgelbauverein der katholischen Kirchengemeinde Neunburg im Pfarrsaal St. Georg. Teil 2 mit weiteren 20 Szenen aus den Akten 4 und 5 folgten am vergangenen Freitagabend in der Neunburger Versöhnungskirche, diesmal zugunsten der Orgelsanierung der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde. Die feiert dieser Tage das 110-jährige Bestehen ihres Gotteshauses an der Dietrich-Bonhoeffer-Allee/Bahnhofstraße. Einen engen Zusammenhang des 1906 entstandenen Kirchenbaus mit den nachfolgenden Menschheits-Katastrophen der Weltkriege I und II stellte Pfarrer Gerhard Beck in seinen Grußworten deutlich heraus. Eingeleitet hatte den Karl-Kraus-Leseabend ein kontemplatives Orgelpräludium des Neunburger Organisten Matthias Eckel-Binder.

Einen totalen Stimmungswandel führte bewusst das erste Karl-Kraus-Couplet herbei, „Das Lied von der Presse“, in welchem Macht und Machtmissbrauch der damaligen Printmedien schonungslos bloßgestellt werden

Sänger und Gitarrist Jürgen Zach

Sänger und Gitarrist Jürgen Zach

– die Intepretation des Sängers und Gitarristen Jürgen Zach traf die Intentionen des Verfassers auf den Punkt. Danach betraten die beiden Rezitatoren Karl Stumpfi und Wolfgang Huber das Podium. Die Handlung setzt im Weltkriegsjahr 1917 ein. Die erste Szene ist am Ringstraßenkorso-Sirkecke angesiedelt: „Soweit die Masse in Bewegung ist, zieht sie durch ein Spalier von Krüppeln in Zivil, Invaliden, deren Köpfe und Gliedmaßen in unaufhörlichen Zuckungen begriffen sind, Bettler und Bettlerinnen aller Lebensalter, Blinden und Sehenden, die mit erloschenen Blicken dies bunte Leben begleiten…“ Die Zuhörer werden Ohrenzeugen eines Gesprächs zwischen Offizieren. Sie kommentieren eher gelangweilt die tagesaktuellen Geschehnisse, halten den Kriegseinritt der Vereinigten Staaten nur für „eine amerikanische Reklam“, die lediglich „ihnern Pusiness“ dient. Auch zwei pensionierte Hofräte gewinnen der immer schwieriger werdenden Frontlage der Ku.K-Monarchie nur tragik-komische Züge ab, indem sie beim Umdichten von Goethes „Wanderers Nachtlied“ wetteifern. Die Kriegsberichterstatterin Schalek versucht einem Soldaten  an vorderster Artilleriestellung  zu entlocken: „Was denkt ein einfacher Mann, wenn er den Spagat am Mörser zieht“. Seine entwaffnend-knappe Antwort „Gor nix!“ lässt sie frustriert die Front weiter abschreiten… Die Kriegspropaganda nimmt der Dialog des Patrioten mit dem Abonnenten aufs Korn: Sie weiden sich genüsslich an einer vorgeblich in England ausgebrochenen Hungersnot, indessen die Versorgungslage an der Heimatfront immer dramatischere Formen annimmt. Die beiden abschließenden Leseszenen im ersten Teil sind von schwarzem Humor und Situationskomik geprägt – beides lässt beim Zuhörer wiederholt das Lachen in der Kehle stecken.  So beispielsweise, wenn Vinzenz Chramosta, Inhaber einer Viktualienhandlung, seine Kundschaft ein ums andre Mal mit derben Worten zusammenstaucht oder einen zur Revision erschienenen Marktamtskommissär mit Schimpfworten überzieht, ihn zuletzt mit Messern bedroht und ihm einen Korb mit Haselnüssen nachwirft. Der senile Kaiser Franz Joseph schläft auf seinem Schreibtisch in Schloss Schönbrunn ein. Träumend stimmt er sein resignatives Couplet „Mir bleibt ja nichts erspart“ an – von Sänger Jürgen Zach gekonnt und treffend nachempfunden. Zach zeichnete an diesem Abend auch für die Tontechnik verantwortlich. Die Textpassagen wurden mit kurzen Toneinblendungen aus Gustav Mahlers 6. Sinfonie, die „Tragische“, unterbrochen. In einem weiteren Audio-Einspieler wurde das Publikum mit der aberwitzigen Syntax einer amtlichen Verlautbarung des Wiener Stadtmagistrats 1917 konfrontiert.

Nach der Pause rücken die Kriegsgreuel auch szenisch näher. Eine zynisch-inhumane Ministerialbürokratie im Hinterland und eine abgrundtief entmenschlichte Soldateska im Blutrausch nehmen die Zuhörerschaft in den Würgegriff. Beklemmende Parallelen zu einer aus den Fugen geratenen Welt der Gegenwart, bestätigen Besucher tief beeindruckt unmittelbar nach der Lesung. Das unsägliche Leid der heimkehrenden Kriegsinvaliden, auf dem Wiener Nordbahnhof öffentlich zur Schau gestellt, kontrastiert mit einem orgiastischen Liebesmahl bei einem Korpskommando, letzte Durchhalteparolen verpuffen in der überbordenden Weltuntergangsstimmung. Dann steigt am Horizont die Flammenwand empor – die Apokalypse ist nun zum Greifen nahe. Kann sie noch abgewendet werden? Karl Kraus‘ Antwort darauf ist zutiefst pessimistisch. Und er lässt sie seinem Alter Ego, den Nörgler, in diese anklagenden Worte kleiden: „Die Welt geht unter und man wird es nicht wissen. Alles was gestern war, wird man vergessen haben, was heute ist, nicht sehen, was morgen kommt, nicht fürchten. Man wird vergessen haben, dass man den Krieg verloren, vergessen haben, dass man ihn begonnen, vergessen, dass man ihn geführt hat. Deshalb wird er nicht aufhören“.

Karl-Kraus-Lesetheater "Die letzten Tage der Menschheit" am 7. Oktober in der ev. Versöhnungskirche.

Karl-Kraus-Lesetheater „Die letzten Tage der Menschheit“ am 7. Oktober in der ev. Versöhnungskirche. Foto: Udo Weiß, NT

****************************

MEDIEN-ECHO

Bericht in der Zeitung „Der Neue Tag“, Ausgabe SAD, v. 12.10.16 als jpg-Datei:

krauslesungnt16Bericht in der Mittelbayerischen Zeitung v. 11. 10. 2016 als jpg-Datei:

11_Oct.STN2

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.