Musikalische Lesung „1918 – Die letzte Nacht“ in der Spitalkirche:

Weltkrieg, sinnentleert und pervers…

Die Hauptakteure der Musikalischen Lesung "1918 - Die letzte Nacht" in der Spitalkirche (v.li.) Karl Stumpfi, Jürgen Zach und Wolfgang Huber. Fotos: Alfred Grassmann

Die Hauptakteure der Musikalischen Lesung „1918 – Die letzte Nacht“ in der Spitalkirche (v.li.) Karl Stumpfi, Jürgen Zach und Wolfgang Huber. Fotos: Alfred Grassmann

„Die letzten Tage der Menschheit“ – Dieses in den Kriegsjahren 1914 bis 1917 entstandene Drama gab die Vorlage zum dreiteiligen Karl-Kraus-Lesetheater im Neunburger Kunstherbst. Nach dem Auftakt 2014 und die Fortsetzung 2016 folgte am Mittwochabend das Finale mit der rund zweistündigen Musikalischen Lesung „1918 – Die letzte Nacht“ in der Spitalkirche.

1. Vorsitzender Peter Wunder begrüßte die Zuhörerschaft.

1. Vorsitzender Peter Wunder begrüßte die Zuhörerschaft.

1. Vorsitzender  Peter Wunder begrüßte dazu einen zwar kleinen, aber doch hochkonzentrierten Zuhörerkreis im ehemaligen Gotteshaus, dessen Gründung auf die Spitalstifung des Pfalzgrafen Ruprecht III. im Jahr 1398 zurückreicht.  Wunder sah diese Lesung im Kontext zur laufenden Internationalen Ausstellung „Ahoj 18 – Kunst für den Frieden“. Der Kunstverein Unverdorben wolle damit ein Zeichen setzen in einer politisch sehr unruhigen Zeit, welche sich zunehmend zur Gefahr auch für den Frieden in Europa entwickle. Er dankte seinen Vorstandsmitgliedern Karl Stumpfi und Jürgen Zach, welche das Lesetheaterprojekt mit großem Idealismus betreuten. Mit Wolfgang Huber aus Nittenau komplettiert ein ausgewiesener Literatur- und Sprachexperte diese Troika.

LITANEI VON TODESURTEILEN

Mit dem „Lied von der Presse“, getextet und komponiert von Karl Kraus, interpretiert von Jürgen Zach (Gesang/Gitarre) wurde gleich eingangs des Abends deutlich: Der Erste Weltkrieg gilt nicht nur als der erste technische, sondern auch der erste mediale Großkonflikt. Unmittelbar darauf folgte als Toneinspieler: „Verlautbarte Todesurteile“, ein Auszug aus der Wiener Arbeiterzeitung vom 8. Oktober 1918.

Karl Stumpfi liest Texte von Karl Kraus und Georg Trakl

Karl Stumpfi liest Texte von Karl Kraus und Georg Trakl

„Über vier Jahre dauert der Weltkrieg schon, längst ist er zum statischen Stellungskrieg geraten“, führte Rezitator Karl Stumpfi in die Thematik, „Frontberichte verschwinden aus den Zeitungsspalten, Litaneien verlautbarter Todesurteile von Militär- und Standgerichten häufen sich. Werden alltäglich, wie heutzutage amtliche Bekanntmachungen und Standesamtsnachrichten“.

Für den Satiriker und Moralisten Karl Kraus sind mit dem Ersten Weltkrieg die letzten Tage der Menschheit angebrochen. Aus seinem monumentalen Endzeitdrama, das einem Marstheater zugeeignet ist, lasen Karl Stumpfi und Wolfgang Huber vier Szenen aus dem 4. Akt, welche die menschenverachtende Sinnentleerheit, ja Perversion des Krieges vor Augen führen. Sie seien auch ein leidenschaftlicher Appell an die Menschheit, die Lektionen der Geschichte endlich zu begreifen und zu verinnerlichen. „Denn wer aus Geschichte nicht lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“.

REMARQUES LEBEN UND WERK

Nach dem von Jürgen Zach vorgetragenen „Marschlied“ befasste sich Wolfgang Huber mit der Biografie Erich Maria Remarques und der Rezeptionsgeschichte dessen Klassikers „Im Westen nichts Neues“. Er rückte hierbei in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen, dass der Autor eine Romantrilogie nicht primär dem Grauen des Kriegsgeschehens, sondern dem Schicksal der jungen Generation widmete.  Weitere Romantitel sind „Drei Kameraden“ und „Zeit zu leben – Zeit zu sterben“.

Wolfgang Huber liest Texte von Karl Kraus und Erich Maria Remarque

Wolfgang Huber liest Texte von Karl Kraus und Erich Maria Remarque

Huber schloss diesen Komplex mit der Lesung des Schlusskapitels aus „Im Westen nichts Neues“ – und dem Sterben des  Ich-Erzählers: „Er war vornübergesunken und lag wie schlafend an der Erde. Als man ihn umdrehte, sah man, dass er sich nicht lange gequält haben konnte – sein Gesicht hatte einen so gefassten Ausdruck, als wäre er beinahe zufrieden damit, dass es so gekommen war“.

Musik von Gustav Mahler leitete nach der Pause den zweiten Teil des Leseabends ein, Adagio aus der unvollendeten 10. Sinfonie, entstanden in den Jahren 1910/11. „Seine Klangwelt“, so Stumpfi, „antizipiert förmlich alle Schrecken und Fährnisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.“  Zu Beginn der Kampfhandlungen 1914 kam es in der Stadt Grodek in Ostgalizien (heute Ukraine) zu einer erbitterten Schlacht zwischen österreichisch-ungarischen und russischen Truppen.  Der 27 Jahre alte Dichter Georg Trakl ist als Sanitätsleutnant in einem Feldlazarett nahe dran an dem blutigen Gemetzel. Unter widrigen Umständen – es fehlen Narkotika für Operationen, sieht er sich außerstande, das Leid der Verletzten zu mildern. Unter diesem Eindruck stehend, verfasst Trakl das  expressionische Gedicht Grodek. Seine nervliche Verfassung verschlechtert sich zusehends, er wird in ein Krakauer Militärspital eingewiesen, wo er Anfang November 1914 einer Herzlähmung in Verbindung mit einer Überdosis Kokain erliegt. Ungeklärt bleibt, ob die Überdosierung absichtlich geschah oder ein Versehen war.

ZERSTÖRTES EBENBILD GOTTES

Kurz vor Kriegsausbruch war Georg Trakls Gedichtezyklus „Der Jüngste Tag“ erschienen. Nach dem Kriegsgedicht Grodek  rezitierte Karl Stumpfi daraus fünf Texte, angereichert mit zwei weiteren Passagen aus Mahlers sinfonischem Vermächtnis: „Menschheit“, „Die Raben“, „Die Ratten“, „Allerseelen“, „Im Winter“ und „Verfall“. Nach Remarque und Trakl stand der Schlussabschnitt wieder ganz im Zeichen von Karl Kraus. Zunächst intonierte Zach Karl Kraus‘ „Weltkriegs-Couplet“. Den Epilog „Die letzte Nacht“ trug das Rezitatoren-Duo in Auszügen vor – sein apokalyptisches Ende samt Untergang des Menschen („Zerstört ist Gottes Ebenbild“) und Gottes Stimme („Ich habe es nicht gewollt!“) ließ den Zuhörern den Atem stocken. Mit dem Friedens-Chanson „Die Antwort der Blumen“ von Klaus Hoffmann setzte Sänger & Gitarrist Jürgen Zach dem Teufelskreis der Gewalt aber  eine Botschaft der Hoffnung entgegen.

Jürgen Zach interpretiert Chansons über Krieg und Frieden.

Jürgen Zach interpretiert Chansons über Krieg und Frieden.

Die Spitalkirche bot einen ebenso stilvollen wie atmosphärisch passenden Rahmen für den Abschluss des dreiteiligen Karl-Kraus-Lesetheaters.

Die Spitalkirche bot einen ebenso stilvollen wie atmosphärisch passenden Rahmen für den Abschluss des dreiteiligen Karl-Kraus-Lesetheaters.

G R O D E K  von Georg Trakl:

Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.
Doch stille sammelt im Weidengrund
Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt
Das vergossne Blut sich, mondne Kühle;
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen
Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,
Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes.
O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre
Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,
Die ungebornen Enkel.

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AUS DEM VORWORT DES AUTORS zum Drama „Die letzten Tage der Menschheit“:

„Es mag auch zu befürchten sein, dass eine Zukunft, die den Lenden einer so wüsten Gegenwart entsprossen ist, trotz größerer Distanz der größeren Kraft des Begreifens entbehrt. Dennoch muss ein so restloses Schuldbekenntnis, dieser Menschheit anzugehören, irgendwo willkommen und irgendeinmal von Nutzen sein“.

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MEDIEN-ECHO

Bericht in der Tageszeitung „Der Neue Tag“ vom 1. Oktober 2018 als jpg-Datei:NTKrieg1Bericht vom 28. September 2018 in der Mittelbayerischen Zeitung, Ausgabe SAD, als jpg-Datei:28_Sep.STN1

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