Nach dem musikalischen Entree „Lied für den Frieden“ erklärte 1. Vorsitzender Peter Wunder, warum aus dem traditionellen und humoristisch geprägten Blauen Montag im Neunburger Kunstherbst ein Blau-Gelber Montag geworden ist: „Wir haben Krieg in Europa und es ist ungeheuerlich, dass hier im 21. Jahrhundert versucht wird, Grenzen gewaltsam zu verschieben“. Der Kunstverein habe auf diese Entwicklung reagiert und den Abend auch als Benefizveranstaltung für die Ukraine-Hilfe umgewidmet. „Nur ein Lied“, mit diesem Protestsong von Alex Diehl nahm danach die musikalische Lesung Fahrt auf. Rezitator Karl Stumpfi modererierte mit einem Zitat des US-Bürgerrechtlers Martin Luther King den ersten Textbeitrag an: „Wir haben gelernt, wie Vögel zu fliegen und wie Fische zu schwimmen, doch wir haben das einfachste nicht gelernt, wie Brüder zu leben“. Der unmittelbare Bezug zur politischen Tagesaktualität: In den 257 Tagen des russischen Überfalls auf die Ukraine seien wir Zeugen von Brudermord – und dieser pflanze sich seit des alttestamentarischen „Falles Kain und Abel“ linear in der Menschheitsgeschichte fort. Dem hält die deutsch-jüdische Poetin Hilde Domin, eine profilierte Vertreterin des reimlosen Gedichtes, ihre Utopie zur Umkehrung der Menschheitsgeschichte entgegen: „Abel, steh auf“. Der andere Anfang, das neue Spiel, wie es in ihrem Gedicht auch heißt, es muss mit Abel beginnen. Die Umkehr, die Wende, der Neubeginn wird nicht dem Täter, sondern dem Opfer zugemutet! Könne es in unserer Zeit trotzdem anders anfangen oder bleibe die biblische Legende von Kain und Abel das bestimmende Paradigma der Menschheitsgeschichte?
Die Zerbrechlichkeit des Planeten Erde klingt im Sting-Oldie „Fragile“ an. Dem stellte das Unverdorbenen-Trio Jürgen Zach, Klaus Götze & Franz Schöberl, verstärkt durch Steffi Heelein und Jörg Maderer zwei „Klassiker“ des deutschen Liedermachers Hannes Wader gegenüber: „Schon so lang“ und „Es ist an der Zeit“. Den literarischen Schwerpunkt im ersten Programmteil setzte Karl Stumpfi auf Joseph Roths Roman „Radetzkymarsch“, ein Abgesang, ein kunstvoll formuliertes Requiem auf den Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn. Der Erste Weltkrieg beendete auch die 600-jährige Herrscher-Dynastie der Habsburger. Leutnant Joseph Trotta rettet Kaiser Franz Joseph 1859 in der Schlacht von Solferino das Leben – es ist jenes Gemetzel, welches den Schweizer Henri Dunant zur Gründung des Roten Kreuzes bewegen wird. Die Familie Trotta wird zum Dank dafür in den Adelsstand erhoben. Der Enkel des Helden von Solferino“ profitiert zwar noch vom Schutz des alten Systems, aber er ist nicht mehr in der Lage, sich damit zu identifizieren. Im 21. Kapitel beschreibt der Autor die ersten Kriegstage im September 1914, aber auch das eher ruhmlose Ende des Protagonisten.Schauplatz ist das Gebiet Lemberg in der Westukraine, damals die Ostgrenze der KuK Monarchie.
Mit einer bemerkenswerten Ouvertüre zwangen nach der Pause die Unverdorbenen-Musiker zum konzentrierten Hin- und Zuhören. Sie spielten eine Coverversion der Komposition „Alps“ des Herbert-Pixner-Projekts aus Südtirol, wobei Gitarrist Klaus Götze und Hornist Franz Schöberl mit ihren Soli Szenenbeifall provozierten. Co-Rezitator Wolfgang Huber, er wirkte bereits beim Karl-Kraus-Zyklus „Die letzten Tage der Menschheit“ 2014 bis 2018 mit, richtete seinen Fokus auf Oskar Maria Graf, den anarchistischen bayerischen Schriftsteller. Er verküpfte hierbei biografische Basisdaten mit Textauszügen aus „Wir sind Gefangene“, „Einer gegen alle“ und „Das Leben meiner Mutter“. Mit schonungsloser Offenheit, kraftvoll und ehrlich schildert der Autor Erlebnisse seiner Kindheit bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und der Zeit der Münchner Räterepublik, wobei dessen „Feldzüge“ gegen die Kriegsmaschinerie und den Obrigkeitsstaat ihn an diesem Abend als „Antikriegsheld“ positionierten.
Wie im Frühjahr 1945 im brennenden Deutschland nun auch ganz junge Leben verheizt werden, ist Thema einer der bekanntesten und prägnantesten Kurzgeschichten von Heinrich Böll: „Wanderer, kommst du nach Spa“. Auszüge daraus las Karl Stumpfi im zweiten Teil des Gelb-Blauen Montags. Weitere Musikbeiträge folgten mit dem Cat-Stevens-Song „Peace Train“, dem Reinhard-Fendrich-Chanson „Frieden“ und der italienischen Revolutions-Canzone „Bella Ciao“. Das Gebet der Vereinten Nationen des amerikanischen Pulitzer-Preisträgers Stephen Vincent Benét und der John-Lennon-Friedenssong „Imagine“, von Jürgen Zach ins Oberpfälzische transponiert, setzten den Schlusspunkt hinter einem wahrhaft denkwürdigen Neunburger Kunstherbst-Abend. Das Publikum bedankte sich für die künstlerischen Darbietungen mit reichlichem, lange anhaltendem Applaus und zeigte sich zudem äußerst spendenfreudig: Rund 500 Euro können an die Ukraine-Hilfe weitergereicht werden. Nicht unerwähnt bleiben sollte nicht zuletzt der Illuminations-Support des Beleuchters Wolfgang Gräßl – er tauchte das Hallenfoyer in die Symbolfarben Blau und Gelb…
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MEDIEN-ECHO
Bericht in der Mittelbayerischen Zeitung, Ausgabe SAD, v. 9. 11. 2020 als jpg-Datei: