
Der Bochumer Autor Lieven Rother (32) zeigt seinen Debüt-Roman „Marshall in Love“, dem Anfang des Jahres die Literaturkritik „eine beharrliche Treue zum Realismus und ein aufrichtiges Engagement für eine warme, soziopolitische Analyse“ bescheinigte. Foto: Angelina Zander
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„Aus der Geschichte der Völker können wir lernen, dass die Völker nichts aus der Geschichte gerlernt haben“. (Georg Wilhelm Friedrich Hegel)
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Derartige Kriegsverbrechen waren für uns alle unvorstellbar und so befahlen wir das gesamte Dorf zusammen, alle Erwachsenen. Ihnen wurde von uns auferlegt, dass die Leichen der Häftlinge aus dem Wald, auf einen ehrwürdigen Friedhof gebracht werden müssten, um dort zunächst aufgebahrt und anschließend im Rahmen eines angemessenen Begräbnisses beigesetzt zu werden. Wir fanden tatsächlich die kolportierte Anzahl der Toten, sogar noch eine Handvoll mehr…Für mich, als Kriegsberichterstatter, war es das nächste Erlebnis, das sich tief in mein Gedächtnis einbrennen wird. Teilweise waren die Leichen böse zugerichtet, lagen ineinander verkeilt, wobei die Austrittswunde des einen Leichnam unmittelbar in die Eintrittswunde des anderen überging. Eine Grausamkeit und Entmenschlichung, die ihresgleichen sucht.“
Nur ein kurzer Auszug aus dem 23. Kapitel des Romans „Marshall in Love“ von Lieven Rother, der um die Jahreswende 2021/22 im Verlag Europa Buch erschienen ist. Genauer: Es ist ein Kriminalroman der besonderen Art. Und deshalb schickt der Verlag gleich voraus: „Die Leser seien gewarnt. Wer keine Lust darauf hat oder sich nicht traut, unsere moderne Geschichte einmal wieder durchzuarbeiten, sollte sich eher enthalten, diese Seiten durchzublättern. Denn ja, nicht leichtherzig lässt sich dieser Roman lesen“..Tatsächlich gelingt dem Autor, ein komplexes Mosaik zu verfassen, eine dichte Fläche, auf der sich gewebeartig kleine und große Geschichten miteinander verflechten. Die aufmerksamen Leser werden auch erkennen und schätzen, wie scharf der Autor das Ruhrgebiet als Roman-Schauplatz wählt, das, wie wenige andere Orte Europas, die Probleme und Herausforderungen der kontemporären Zeit auf sich nimmt. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen in einer Erarbeitung von privaten und kollektiven Ereignissen, während persönliche Geschichten sich zur Verwirklichung der gemeinsamen Historie erheben. Zum Stil des Autors muss man ohnehin die detaillierten Deskriptionen hervorheben, die in wenigen Pinselstrichen den Kern einer traumatisierten Menschheit und ihre schmerzhaften Beziehungen offenlegen und zum unmittelbaren Mitleid führen. Zudem zeigt die rohe Sprachwahl eine beharrliche Treue zum Realismus und ein aufrichtiges Engagement für eine warme, soziopolitische Analyse.
BEZUG AUF DEN HOLOCAUST
Welche Themen bestimmen den Roman „Marshall in Love“? Autor Lieven Rothers Antwort lautet: „Mein Buch ist kein klassischer Kriminalroman. Die Handlung umfasst einen Antagonisten, der von der Gesellschaft ausgeschlossen und abgehangen wurde. Aufgrund dieser sozialen Ausgrenzung, entwickelt der Antagonist perfide Mordfantasien und setzt diese in die Tat um, indem er wahllos Migranten tötet“. Darüber hinaus behandelt der Roman die Themen Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus Im Rahmen dessen wird unmittelbar Bezug auf den Holocaust genommen – so im eingangs zitierten 23. Kapitel, das eines der dunkelsten Abschnitte der Geschichte Neunburgs streift – weitab vom wesentlichen Schauplatz der Romanhandlung, nämlich Dortmund und das Ruhrgebiet.
Lieven Rother, der 1990 in Bochum geboren wurde, möchte seinen Leserinnen und Lesern eine Möglichkeit bieten, sich kritisch und reflektiert mit der historischen Verantwortung Deutschlands auseinanderzusetzen. Denn: Hass und Ausgrenzung gegenüber jeder Person und jeder Lebensform ist eine Gefahr für unsere pluralistische Gesellschaft, betont der Autor. Sein Protagonist – Linus Gerling – hat ein stark demokratisch geprägtes Werte- und Moralsystem und handelt auch dementsprechend. Diese Charaktereigenschaften werden im Laufe des Buches immer mehr entwickelt und dargestellt.
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„Je weiter wir fuhren, desto größer wurde die Erkenntnis, dass die Mehrzahl der Bürger zumindest geahnt haben muss, welche Verbrechen die Nazis an den Juden begangen haben. Die Antwort auf diese Vermutung fanden wir in den Wäldern bei Neunburg vorm Wald.“ (Aus dem 23. Kapitel des Romans „Marshall in Love“ von Lieven Rother)
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Der Protagonist setzt sich zudem kritisch und reflektiert mit der historischen Verantwortung Deutschlands auseinander. So schließt das Neunburg-Kapitel von „Marshall in Love“ mit dieser Schlussfolgerung: „Diese Tötungen skizzierten das perfide Denken der Täter, untermalten den strukturierten Genozid und ließen keinen Zweifel daran, dass sowohl innerhalb, als auch außerhalb Deutschlands eines der größten Verbrechen der jüngeren Geschichte begangen wurde“.
Beruflich ist der 32-Jährige als Polizeibeamter beim Polizeipräsidium Bochum in Nordrhein-Westfalen tätig. Seit 2020 wohnt er mit seiner Ehefrau und zwei Söhnen Fröndenberg bei Dortmund und genießt dort nach eigenem Bekunden „das Leben auf dem Land“.
