„Gott erbarme dich unser und möge er die Überlebenden die richtigen Schlüsse aus dem Erlebten ziehen lassen“. Mit diesen Worten eines US-Kriegsberichterstatters – im Roman der Großvater des Protagonisten Linus Gerling – beendete Lieven Rother seine rund 90-minütige Rezitatation aus „Marshall in Love“. Mit diesem Satz schließt auch das 23. Kapitel „Neunburg vorm Wald, Sommer 1945“. Ein resignatives Resümee zieht Gerling, der Echtzeit-Journalist, in seinem an den verstorbenen Großvater gerichteten Tagebuch-Eintrag, nachzulesen im Epilog des Buches: „Gelernt haben sie nichts. Die Menschen. Von der Welt hast du nichts verpasst…“ Einsichten, die auf die Zuhörer im abgedunkelten kleinen Kirchenschiff beklemmend wirken – in Zeiten, in denen seit 230 Tagen der Russland-Ukraine-Krieg von einer Eskalationsstufe zur anderen taumelt und der US-Präsident angesichts atomarer Drohgebärden von einem nahenden „Armageddon“ spricht. Der 3. Weltkrieg ante portas?
„Mein Roman ist Fiktion, doch die Handlung bewegt sich nahe an der Realität“, hatte Lieven Rother einleitend erklärt. Schauplatz ist das Ruhrgebiet, doch historische Exkursionen beamen in die Mitte des 20. Jahrhunderts zurück. So landen die Leser in ihrer Zeitreise auch im „revierfernen“ Neunburg vorm Wald – in jenen Tagen, nachdem die US Army in die Pfalzgrafenstadt einmarschiert war und dort alsbald mit den Gräueltaten der NS-Schergen konfrontiert wurde. 75 Jahre später scheint der Rechtsextremismus wieder unaufhaltsam auf dem Vormarsch zu sein: in Deutschland und anderswo in Europa. Rother personifiziert diese Unheil verheißende Entwicklung mit dem Werdegang seines Roman-Antagonisten Maik Kempf, „der von der Gesellschaft ausgeschlossen und abgehangen wurde“. Aufgrund dieser sozialen Ausgrenzung entwickle er perfide Mordfantasien und setze diese in die ruchlose Tat um, indem er wahllos Migranten umbringt. Zeitungs-Journalist Linus Gerling hingegen verfügt über ein stark demokratisch geprägtes Werte- und Moralsystem und handelt dementsprechend. Der Protagonist setzt sich zudem kritisch und reflektiert mit der historischen Verantwortung Deutschlands auseinander. Gerade diese Eigenschaft wird im Fortgang der Geschichte immer signifikanter. Als im Bereich des Polizeipräsidiums Bochum – auch im Streifendienst – beruflich tätige Polizeioberkommissar kann Rother wiederholt Background-Wissen in die Handlungsstränge implementieren. Einen klassischen Kriminalroman habe er mit „Marshall in Love“ aber nicht vorgelegt. Literaturkritiker attestieren dem Verfasser „mit roher Sprachwahl eine beharrliche Treue zum Realismus“ zu zeigen. Vor dem Neunburger Zuhörerkreis beschrieb Lieven Rother den Appell an den Humanismus als urpersönliche Motivation zur Feder zu greifen. Gegen Ausländerfeindlichkeit, Hass, Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten wolle er schriftstellerisch zu Felde ziehen. Eindringlich warnte der junge Autor vor „gefährlichen Strömungen in Deutschland und anderen Ländern Europas“. Die Demokratie sei keine Selbstverständlichkeit. Sie zu verteidigen, nehme jeden Einzelnen in die Pflicht und Verantwortung.
Eine passende, ebenso wie die Lesung mit großem Beifall bedachte Umrahmung kam von Musiker Jörg Maderer (Ukulele/Gesang): „Autumn Leaves“ (Jazzstandard von 1945, Ukulele-Arrangement von David Chen Chienting,Taiwan); „The Moon Represents My Heart“ (eines der bekanntesten und beliebtesten taiwanesischen/chinesischen Lieder aller Zeiten von Sun Yi/Teresa Teng (Taiwan), für Ukulele arrangiert von David Chen Chienting; „Vesterstrand“ (geschrieben und arrangiert von Thomas Elof, Dänemark) und „Woanders“ vom bayerischen Liedermacher Georg Ringsgwandl (2016).
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MEDIEN-ECHO
Bericht in der Mittelbayerischen Zeitung, Ausgabe SAD, v. 22. Oktober 2022 als pdf- und jpg-Datei: LievenRother-22-10-2022